Impfungen sind ein Versprechen auf Normalität
Drei Fragen an den LWL-Historiker Malte Thießen über die Entwicklung eines Impfstoffs gegen das Coronavirus.
Westfalen-Lippe (lwl). Die Nachricht sorgte in den vergangenen Tagen für Jubelstürme nicht nur unter Medizinern: Endlich ist ein effektiver Impfstoff gegen das Coronavirus “SARS-CoV-2” in Vorbereitung. Die Wirksamkeit klingt vielversprechend. Historiker Prof. Dr. Malte Thießen vom Institut für westfälische Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) erklärt im Interview, wie der Impfstoff unser Leben verändern wird und welche Schwierigkeiten bewältigt werden müssen.
Herr Thießen, Sie haben die Geschichte des Impfens vom 19. Jahrhundert bis heute erforscht. Welche Hoffnungen weckt der neue Impfstoff gegen COVID-19?
Impfungen sind immer ein Versprechen auf Normalität. Wir leben seit den 1970er Jahren im “Immunisierten Zeitalter” und haben die Schrecken früherer Infektionskrankheiten – Gott sei Dank – vergessen. Dass momentan die Aktienkurse durch die Decke gehen – und zwar nicht nur von Pharmaunternehmen, sondern ebenso in der Flug- und Tourismusbranche, zeigt die Macht dieses Versprechens: Seit Verkündung des Impfstoffs machen wir bereits Wetten auf eine Corona-freie Zukunft. Die Krise scheint dank eines Impfstoffs nun endlich planbar, ja kontrollierbar zu sein. Diese Sehnsucht auf Normalität ist natürlich sehr nachvollziehbar. Aber wir sollten dabei nicht die Probleme der Gegenwart vergessen.
Welche Probleme wird die Einführung des Impfstoffs in den kommenden Monaten mit sich bringen?
Unser ganz aktuelles Problem ist Geduld: Trotz unserer Sehnsucht nach einer schnellen Verfügbarkeit des Impfstoffs müssen präzise Prüfverfahren und umfangreiche Testreihen absolviert werden. Eine vorschnelle Markteinführung erhöht das Risiko von Nebenwirkungen und schadet letztlich der Sache. Mittelfristig sind Verteilungskonflikte eine Herausforderung. Die Verfügbarkeit einer Impfung weckt Begehrlichkeiten und kann in Wettbewerben um die schnellste Immunisierung ausarten. Aus diesem Grund ist es richtig, dass bereits in diesen Tagen klare Kriterien für die Zuteilung des Impfstoffs vorgestellt worden sind. In langfristiger Perspektive ist die Akzeptanz des Impfprogramms ganz entscheidend für den Erfolg der Corona-Eindämmung. Impfungen sind mitunter Opfer ihrer eigenen Erfolge: Gerade, weil sie so effektiv gegen Infektionskrankheiten vorsorgen, geht das Interesse in Teilen der Bevölkerung nach einer Weile zurück. Hier ist kontinuierliche Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit gefragt, damit wir den Schutz der Allgemeinheit dauerhaft zu unserer eigenen Sache machen.
Das Robert Koch-Institut hat sich gegen eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen – was spricht für freiwillige Impfungen?
Eine Impfpflicht klingt auf den ersten Blick verlockend: Könnten wir so nicht mit einem Schlag alle unsere Sorgen los sein?
Ein zweiter Blick weckt jedoch Zweifel. Die Durchsetzung und Überwachung einer Impfpflicht kostet erhebliche Ressourcen, die sich besser in Impfprogramme stecken lassen. Außerdem mobilisiert eine Impfpflicht mitunter Kritiker und befördert Verunsicherungen und Verschwörungstheorien. In historischer Perspektive haben sich alle freiwilligen Impfprogramme gegenüber Pflichtimpfungen klar als effektiver erwiesen: Niedrigschwellige Angebote, zum Beispiel eine Art “Impfen to go” in öffentlichen Einrichtungen, Aufklärungsarbeit und Appelle an Solidarität sind schlichtweg überzeugender als staatlicher Druck. Wegen solcher Maßnahmen erreichten beispielsweise freiwillige Impfungen gegen Diphtherie oder gegen Poliomyelitis in Deutschland stets höhere Impfquoten als die Pflichtimpfungen gegen Pocken.